Dieser Holzschnitt von Walter Habdank, den er schlicht „Erwartung“ genannt hat, hat es mir schon immer angetan. Auch wenn ich seine Figuren immer etwas überzogen finde, mit ihren übergrossen Gesichtern und Händen, so spricht dieses Bild mich unmittelbar an.
Auf einem wackeligen Turm, mehr Gerüst als wirklicher Turm, haben sich mehrere Personen versammelt. Die Konstruktion lässt mich an den Kirchturm einer Kirchenburg in Transsylvanien in Rumänien denken, die ich einmal besichtigte. Der Führer war mächtig stolz auf diesen uralten, aber eben auch schon etwas baufälligen Turm. Der Führer wollte mit uns ganz nach oben steigen, aber je höher wir kamen, desto mehr schwankte der Turm. Nie war ich so froh, als die Besichtigung endlich vorbei war. Obwohl ihr Turm nicht vertrauenswürdiger aussieht, scheint sie das nicht zu stören. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht der Statik und der Bequemlichkeit. Ihre ganz Körperhaltung ist gespannt, aufmerksam, erwartungsvoll, si spähen aus nach etwas, das sie noch nicht sehen, aber auf keinen Fall verpassen wollen. Der Mond unten links deutet an, dass sie in der Nacht oder im Morgengrauen hier hoch geklettert sind.
Ganz vorne dran steht einer mit einem Fernglas. Fast fällt er vom Turm. Er möchte genau sehen, klarer als mit bloßen Augen, näher als in Wirklichkeit. Doch er schaut auch neben dem Glas vorbei, will vielleicht das Ganze sehen, nicht nur den Ausschnitt, den das Fernglas zeigt.
Hinten steht einer und hält sich mit beiden Händen fest. Er beugt sich nach vorne, streckt sich dem entgegen, was er erwartet.
Zwischendrin lugt einer hervor. Er deutet mit dem Finger in die Ferne und öffnet ein wenig den Mund. Er beugt sich zu seinem Nachbarn und flüstert ihm etwas zu. Auf was zeigt er? Was sieht er?
Am Rand steht einer, der sichert sich mit der einen Hand, mit der anderen hält er schützend die Frau. Oder hält er sich an ihr fest?
Die Frau hat sich am Rand hingesetzt. Sie hält sich nicht fest. Sie hebt ihre Arme hoch. – Greift sie sich an den Kopf? Oder hat sie die Hände – angestrengt lauschend – an die Ohren gelegt, um besser zu hören?
Sie alle blicken nach vorn, schauen hinaus, in die Ferne. Gemeinsam halten sie Ausschau.
Vom Hund ist nur der Kopf zu sehen. Auch er spitzt die Ohren und schaut und lauscht.
Gemeinsam ist ihnen die Haltung, die Erwartung, die sich in ihrer Körperspannung und ihrem Gesichtsausdruck ablesen lässt. Dafür haben sie alles stehen und liegen lassen, um auf diesen wackeligen Turm zu klettern.
Was erwarten Sie wohl? Gezeichnet vom Leben sehen sie aus, verwundet vielleicht. Mag sein, dass sie deshalb ein feines Gespür dafür haben, wenn sich etwas Neues anbahnt, etwas, das möglicherweise ihr Leben verändert und das zum Gutem.
Sie sind voller Sehnsucht nach einer Welt, die nicht aufgeht, in dem, was sie schon erfahren haben: der Enttäuschung, den Schmerzen, der Armut, der Angst, dem Leiden, dem Schmerz und der Ausweglosigkeit. Bleibt keine Sehnsucht mehr, geht ihr das Sehnen verloren, dann bleibt nur die Sucht zurück. Vielleicht sind wir eine Gesellschaft geworden, in der genau das passiert ist, dass wir keine gemeinsamen Sehnsüchte mehr haben, dass jede und jeder für sich versucht, seine eigenen, kleinen Bedürfnisse zu stillen. Vielleicht macht uns das anfällig für die süssen Versprechungen der Populisten, für die Gleichgültigkeit, für den leeren Materialismus, der ständig neu befriedigt werden muss. Ich frage mich bei den Gestalten auf dem Turm: Was erwarte eigentlich ich? Worauf warte ich (noch)? Und war erwartest Du? Was ist Deine Sehnsucht?
Dein Pfarrer Uwe Hayno Klaas Tatjes
Als Musik für diesen Tag wähle ich das wunderschöne keltische Lied „THÈID MI DHACHAIGH CHRÒ CHIN T-SÀILE“ (Rückkehr nach Kintail), das von einer unbeirrbaren Hoffnung singt.