Briefmarke zum Jubiläum des amerikanischen Pony Express Dienstes

Adventskalender 1. Dezember

Publiziert am 1.12.2024

Wahre Geschichten

Es war einmal eine Kneipe, in der auch der müdeste Zecher wieder zu Kräften kam, und deshalb hieß sie auch El Resorte, also „Zur Triebfeder“ oder „Zur Spannkraft“. Diese Kneipe stand mutterseelenallein in der Landschaft, weit und breit kein Mensch, und so ging Don Verídico daran, Abhilfe zu schaffen, und für Zuwachs sorgen, damit sich die Kneipe nicht einsam fühlte. Diese wahre Geschichte hat sich, wie man erzählt, wirklich zugetragen, und zwar in dem Dorf, das dank Don Verídicos Manneskraft existiert.
Und wie man erzählt, war in dem Dorf ein Schatz versteckt, nämlich im Haus eines tattrigen Alten, der kaum noch aus seinem Haus kroch.
Nur am Ersten eines jeden Monats rappelte sich der Alte auf und verließ das Haus, um sich seine Rente zu holen.
Als es wieder einmal so weit war, nützten Diebe, die extra aus Montevideo ausgereist kamen, diese Gelegenheit und stiegen in das Haus ein.
Die Diebe durchwühlten alle Räume. In einem Winkel des Hauses fanden sie endlich, unter Spinnweben, eine versperrte Truhe. Sie versuchten sie zu öffnen, aber das gewaltige Schloß widerstand des Bemühungen.
Deshalb schleppten sie die Truhe aus dem Haus. Erst in der Hauptstadt gelang es Ihnen, das Schloß zu knacken, aber ihre Enttäuschung war groß, als sie statt der erwarteten Goldmünzen vergilbte Briefe fanden, nur Liebesbriefe, die der alte im Lauf seines langen Lebens erhalten hatte.
Die Diebe wollten die Briefe verbrennen. Dann schreckten sie davor zurück. Schließlich beschlossen sie, die Briefe zurückzugeben. Und zwar einzeln. einen pro Woche.
Von da an konnte man den Alten jeden Montag gegen Mittag aus dem Haus humpeln sehen. Er erklomm den höchsten Punkt des Hügels. Dort scharrte er ungeduldig mit den Füßen, bis er in der Ferne den Briefträger mit dem schwerbeladenen Postpferd auftauchen sah. Kaum erkannte er sie, da stürmte der Alte auch schon den Hang hinunter. Der Briefträger, der für die Eile des Empfängers Verständnis zeigte, hielt den Brief schon in der Hand.
Und sogar der heilige Petrus hörte das Herzklopfen dieses Mannes, der außer sich war vor Freude, Worte einer Frau zu empfangen.
Eduardo Galeano, Das Buch der Umarmungen, S. 60f

Ein Wort kann lebendig machen. Ein Wort kann vernichten. Die Worte haben Macht. Am mächtigsten jedoch ist das Wort, wenn es Leben schafft, wenn es selbst das Leben ist und trägt (Joh 1,4; 6,68). Was für ein wunderbares Wort, wenn es Alte munter und Tattrige recht kregel macht. Alleine das Bild des erwartungsfrohen Alten auf dem Hügel und dazu den verständnisvollen Briefträgers atmet augenzwinkerndes Leben. Die Dinge nehmen ihren Lauf, das Leben schreibt einmal wieder die besten (und manchmal) unwahrscheinlichsten Geschichten: aus dem Diebstahl wird eine Lebensgeschichte und nicht nur die durch eigene Manneskraft bevölkerte Kneipe wird zum “El Resorte”. Ein Diebstahl als Glücksfall. 
Vielleicht müssen wir manchmal das, was wir am meisten suchen, erst verlieren, um wirklich finden zu können? Welche Erkenntnis ziehen die Diebe aus ihrer enttäuschenden Beute? Und wie gehe ich mit den Enttäuschungen meines Lebens um?
Briefe: Sie können vergilben. wahre, warme, lebendige Worte können das nicht. sie können und werden immer wieder ihre Kraft entfalten. Ganz alt und ganz neu. Ein Vertrauen, das mir hilft, mit diesem altmodischen Buch immer wieder auf die Kanzel zu steigen. Briefe, Kapitel, Geschichten voller wahrer, lebendiger, warmer Worte.
Der Alte: mit Herzklopfen, weil er “außer sich vor Freude” ist, “Worte einer Frau zu empfangen”. Wir Menschen: Puzzlemenschen. Unvollständig. Ergänzungsbedürftig. Vervollständigungssehnsüchtig. Es gibt Worte, die können wir uns nicht selber sagen, die müssen wir empfangen. Die müssen uns gesagt, geschrieben sein.
Und wir in uns sehnsüchtig, unsere Entsprechung zu finden. Das muß nicht nur Männlein und Weiblein sein. Auch Freund oder Freundin. Fremde oder Fremder. Zufall oder längst Bekanntes. Wir sehnen uns, wir suchen nach jenem Fluß, der uns Leben verspricht. Unser Leben eine Suche, Wanderung, Austausch, Gespräch, Aufbruch, Entdeckung.
Sicher nicht immer. Aber auf jeden Fall: ein bißchen frische Luft tut jedem gut. Also: warum nicht auf den Hügel gehen und nach dem Postboten Ausschau halten?

Ich wünsche euch eine spannende und aussichtsreiche Adventszeit, euer Pfarrer Uwe Tatjes

Zu dieser wahren (ich schwör!), aber gleichzeitig etwas verrückten Geschichte passt wunderbar die Musik des kanadischen Jazz-Pianisten Chilly Gonzales: „Oregano“ https://www.youtube.com/watch?v=WGd2O1MAeEU. (klick)

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