Geh mir doch nicht auf den Zapfen!
Doch, genau das habe ich vor. Und zwar nicht in Form eines Ratgebers zur Schlichtung von allmählich am zweiten Weihnachtsfeiertag eskalierender familiärer Konflikte (von denen ich hoffe, dass keine Leserin und kein Leser sie erleben musste).Nein, ich möchte eine Geschichte über einen Hausbewohner erzählen, die ihr vermutlich noch nicht kennt. Allerorten in Deutschland und der Schweiz sind zur Weihnachtszeit die Nordmanntannen beliebt. Weil sie im Vergleich zur heimischen Weißfichte ein viel dichteres Nadelwerk besitzen und beispielswise viel kräftiger und belastbarer sind als die Douglasie und vor allem: kaum nadeln. Nordmann-Tannen eignen sich gut als Plantagenbäume, denn sie mögen freie Flächen, anders als unsere heimische Weißtanne, die im Schatten anderer und damit älterer Bäume gut gedeiht. Nordmann-Tannen wachsen langsam und haben dicht übereinanderliegende „Astquirle“. Das sind die tannentypischen Zweig-Etagen. Jedes Jahr treibt eine Knospe aus dem Baumwipfel in die Höhe, die anderen Knospen wachsen zur Seite und bilden dadurch gemeinsam einen Jahrestrieb – den Astquirl. An Heiligabend lässt sich also am Weihnachtsbaum ablesen, wie lange er gewachsen ist. Für zwei Meter braucht eine Tanne zehn Jahre und hat dann also zehn Astquirle – ideal zum Aufhängen von Kugeln und Engeln. Preis: bis zu 75-100 Franken für ein Exemplar.
Für die meisten Menschen ist klar: Die Nordmanntanne kommt aus Dänemark. Oder Skandinavien. Ist ja auch logisch, oder? Wie der Name schon sagt… Der Ursprung unserer Wohnzimmergenossen findet sich aber mitnichten im Land von Smørrebrød und Røde Pølser. Sondern im Süden. Genau gesagt in Georgien im Kaukasus. Dort, wo die Höhenzüge des Kaukasus in der Eiszeit die Gletscher fernhielten, hat sich bis heute eine der artenreichsten Faunen und Floren zwischen kleinem und großem Kaukasus erhalten. Dort entdeckte der finnische Botaniker und Zoologe Andreas von Nordmann im Jahr 1838 die Bäume, die später nach ihm benannt wurden: Abies nordmanniana. Gattung: Tanne, Familie: Kieferngewächse. Bis zu 60 Meter wird die Nordmann-Tanne hoch. Weitere Eigenschaften: dunkelgrüne, seiden glänzende Nadeln, nicht stechend; pyramidaler, meist bauchiger Wuchs; etagenförmig angeordnete Zweige, sehr lange Nadelhaltbarkeit. Insbesondere deutsche Weihnachtsbaum-Liebhaber haben in der Nordmann-Tanne den perfekten Christbaum gefunden.
Und damit der perfekte Nachwuchs für den heimischen Christkugelständer gesichert ist, sind die Christbaumhändler in Europa (führend Dänemark, danach erst Deutschland) darauf angewiesen, immer wieder Samennachschub vom Kaukasus zu bekommen. Keine europäische Nachzucht erreicht die Güte der Ursprungspopulation. Und dafür braucht es Tannenzapfen von den Nordmanntannen des Kaukasus. In denen reifen dann die Samen, aus denen wieder neue Tannebäume wachsen. Also genau genommen verdanken wir unser wohnzimmerliches Tannenbaumglück einer Samenspende. Wobei das natürlich keine Spende ist, sondern ein ein großes Geschäft. Vor allem für die Zwischenhändler. Für ein Kilo Tannenzapfen (ca. 20 Stück) werden in Arbolauri, dem Zentrum des georgischen Tannenzapfenhandels zwischen 0,45 und 0,85€ ausbezahlt. Ein Zwischenhändler erzielt leicht das Hundertfache für ein Kilo der begehrten Ware. Die Arbeit der Pflücker, die vielfach ohne Sicherung in die bis zu sechzig Meter hohen Bäume klettern, um in den Spitzen die Zapfen zu ernten, ist begehrt und gefährlich. Denn immer wieder kommt es zu Verletzungen und tödlichen Stürzen. Die Erntezeit ist ist nur kurz und während dieser Zeit müsen die Männer im Wald leben.
Die Hände verdrecken und verharzen extrem.Dennoch nehmen viele dies Risiko auf sich. Denn ein guter Pflücker kann in vierzehn Tagen ca. 1000€ verdienen, ein Vermögen in Georgien.
Warum ich das erzähle? Nun, ich finde, über jemanden, mit dem man die Weihnachtsfeiertage verbringt, dürfte man schon einmal ein bisschen mehr wissen. Und zum anderen kann es uns vielleicht auch nachdenklich machen, wie stark unser Weihnachtsfest doch „international“ ist und in weiten Teilen davon lebt, dass andernorts Menschen billig arbeiten und für unseren Luxus produzieren.Dazu im folgenden noch eine kleine Geschichte.
WIR BLEIBEN
Es war einmal…So beginnt das Märchen von denen, die auszogen, weil sie das Fürchten gelernt hatten. Es war einmal, etwa drei Tage vor Weihnachten, spätabends. Über den Marktplatz der kleinen Stadt kamen ein paar Männer gezogen, sie blieben an der Kirche stehen und sprühten auf die Mauer:
“Ausländer raus!“ und „Deutschland den Deutschen!“
Steine schlugen in das Fenster des türkischen Ladens schräg gegenüber der Kirche, dann zog die Horde ab. – Gespenstische Ruhe.
Die Gardinen an den Bürgerhäusern waren schnell wieder zugezogen. Niemand hatte etwas gesehen.
„Los kommt!“ „Es reicht, wir gehen!“ „Wo denkst du hin?“ „Was sollen wir denn da unten im Süden?“
„Da unten ist es zumindest unsere Heimat, hier wird es immer schlimmer.“
„Wir tun, was an der Wand steht: Ausländer raus!“
Tatsächlich, mitten in der Nacht kam Bewegung in die kleine Stadt. Die Türen der Geschäfte sprangen auf. Zuerst kamen die Kakaopäckchen, die Schokoladen und Pralinen in ihren Weihnachtsverkleidungen – sie wollten nach Ghana und Westafrika, denn da waren sie zu Hause. Dann der Kaffee palettenweise, der Deutschen Lieblingsgetränk. Uganda, Kenia und Lateinamerika waren seine Heimat.
Ananas und Bananen räumten ihre Kisten, auch die Trauben und Erdbeeren aus Südafrika. Fast alle Weihnachtsleckereien brachen auf. Pfeffernüsse, Spekulatius und Zimtsterne, die Gewürze in ihrem Inneren zog es nach Indien. der Dresdner Christstollen zögerte noch, man sah Tränen in seinen Rosinenaugen, als er zugab: „Mischlingen wie mir geht es besonders an den Kragen.“ Mit ihm kamen das Lübecker Marzipan und der Nürnberger Lebkuchen. Nicht Qualität, nur Herkunft zählten jetzt.
Es war schon in der Morgendämmerung, als die Schnittblumen nach Kolumbien aufbrachen und die Pelzmäntel mit Gold und Edelsteinen in teuren Chartermaschinen in alle Welt starteten. Der Verkehr brach in diesen Tagen zusammen. Lange Schlangen japanischer Autos, vollgestopft mit Optik und Unterhaltungselektronik, krochen gen Osten. Am Himmel sah man die Weihnachtsgänse nach Polen fliegen. Auf ihrer Bahn gefolgt von den feinen Seidenhemden und Teppichen des fernen Asien.
Mit Krachen lösten sich die tropischen Hölzer aus den Fensterrahmen und schwirrten in‘s Amazonasbecken. Man mußte sich vorsehen, um nicht auszurutschen, denn von überall floss Öl und Benzin. Es floss aus Rinnsalen zu Bächen zusammen in Richtung Naher Osten.
Aber man hatte ja Vorsorge getroffen. Stolz holten die deutschen Autofirmen ihre Krisenpläne aus den Schubladen. Der Holzvergaser war ganz neu aufgelegt worden. Wozu ausländisches Öl? Aber die VW‘s und BMW‘s begannen sich aufzulösen in ihre Einzelteile. Das Aluminium wanderte nach Jamaika, das Kupfer nach Somalia, ein Drittel der Eisenteile nach Brasilien, der Naturkautschuk nach Zaire. Und die Straßendecke hatte mit dem ausländischen Asphalt in Verbund auch immer ein besseres Bild abgegeben als heute.
Nach drei Tagen war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft, gerade rechtzeitig zum Weihnachtsfest. Nichts Ausländisches mehr im Land. Aber Tannenbäume gab es noch. Auch Äpfel und Nüsse, und – Stille Nacht durfte auch gesungen werden. Zwar nur mit extra Genehmigung, denn das Lied kam immerhin aus Österreich.
Nur eines wollte nicht ins Bild passen: Maria, Josef und das Kind waren geblieben – drei Juden, ausgerechnet.
Wir bleiben, sagte Maria. Wir werden nicht aus diesem Lande gehen. Wir werden den Weg zurückgehen, den Weg zurück zur Vernunft und Menschlichkeit.
Quelle: Marianne Sägebrecht „Meine Jahreszeiten“ Verlag: nymphenburger
In diesem Sinne: besinnlich-besonnene Weihnachten, euer Pfarrer Uwe Tatjes
Zur Musik für heute: passend zum georgischen Tannenbaumsamen heute eine Musik, die zwar nicht original georgisch ist, aber bei eurem nadeligen Freund sicherlich Heimatgefühle aufkommen läßt und ihn von mit einem samtgrünen Tannenteppich überzogenen Kaukasushängen träumen läßt. Und wer weiß? Vielleicht inspiriert euch „Gajda“ ja zu einem Tänzchen um die Nordmanntanne?
Das aufführende Dušan Radetić Orchestra würde es sicher freuen: https://youtu.be/z3eFLjuw2sY?si=naJzazmVAPZi6oHc