Ich beginne mit einem berührenden Text des Hamburger Journalisten Hauke Schrieber:
„Was Anton besser kann als andere Kinder
Anton spricht Antonisch. Sein Freund Jermey, ein blitzgescheiter Junge und genau wie Anton sieben Jahre alt, hat den Begriff erfunden und stolz erklärt, er sei einer der wenigen, die diese seltene Sprache verstehen könnten. Aber perfekt Antonisch – kann nur Anton.
Anton ruft: “Papa pie!“ und dann spielen wir. Er lacht und sagt:“No-ma!“ und wir spielen noch mal. Jeden Morgen, wenn er aufwacht, lächelt er und sagt „Moin!“ und dann ruft er meistens „Eier Milch!“, was Antonisch ist für den Wunsch, dass es zum Frühstück doch bitte Arme Ritter zu geben habe, mit viel Sirup obendrauf und noch mehr Puderzucker. Und ist sein Teller leer, fordert Anton:“No-ma!“ (…)
Das Leben mit Anton ist ein außergewöhnliches Leben. Es begann in einer eisigen Nacht, einen Tag vor Heiligabend mit der Diagnose Down-Syndrom. Da war Anton zehn Minuten alt. Ein paar Stunden fühlte ich mich wie im freien Fall. Svenja fing mich auf – und unser Leben mit Anton begann. (…)
Als Svenja mir eines Tages mitgeteilt hat, wir würden einen Jungen bekommen, da schmiedete ich Pläne: Wenn er fünf Jahre alt wäre, würde er – so wie ich einst im selben Alter – zum ersten Mal mit ins Volksparkstadion kommen. Ich würde mit ihm Deutsch und Englisch und ein bisschen Mathe üben, was man so braucht fürs Leben. Ich würde ihn zum Training fahren und sonntags bei seinen Punktespielen zuschauen. Später würde ich ihm die Platten, die Bücher, die Filme zeigen, die mich auf dem Weg zum Erwachsensein begleitet haben. Und mit ihm darüber reden.
Es läuft nicht immer alles so, wie man es sich zurechtlegt. In den ersten Wochen nach Antons Geburt gab es diese Pläne erst einmal nicht mehr. Entwicklungsverzögert. Niemand könne voraussagen, wie schnell er was lernen wird. Und was vielleicht nie. Was er früh konnte und besser kann als alle Kinder, die ich kenne, ist: fröhlich sein. (…)
Und wenn Freunde von uns sagen, es sähe so leicht aus, so entspannt, unser Leben mit Anton, dann denke ich: Das ist nett, aber täuscht euch nicht. Das Leben mit Anton ist ein Geduldsspiel. (…) Er hat sein Tempo, und wir haben uns angepasst. Es gibt Schlimmeres.
Und so spaziere ich mit Anton durch Hamburg. Immer etwas langsamer als die anderen, weil Anton hier stehen bleibt und dort, um sich ganz lange eine Blume anzuschauen oder um mit der Akribie eines Bombenentschärfers den Schnee von einem parkenden Auto zu wischen. (…)
Im Sommer kommt er in die Schule. Weil, Anton, du bist ja schon „grooo“, ruft er und zeigt an die Zimmerdecke. Er kann seinen Namen schreiben und seinen Namen lesen und bis vier zählen. Er schlägt mich in UNO (wenn er ein gutes Blatt hat) und er hat mit mir im Volksparkstadion einen Sieg gesehen. Endstand:“Ein-Nuu!“
Wie jedes Kind es tut, hat auch Anton das Leben seiner Eltern bereichert. Vieles ist gleich geblieben. Auf dem Weg des Lebens scheint die Sonne genauso oft wie zuvor, sind die Bäume am Wegesrand nicht weniger grün; nur dass der Weg, seit Anton ihn mitgeht, immer leicht bergauf führt. Es ist für uns alle etwas anstrengender zu gehen. (…)
Vielleicht gibt es Kinder wie Anton bald nicht mehr. Vielleicht sterben sie langsam aus, weil die Untersuchung von ein paar Tropfen Blut der Mutter sie noch weit vor ihrer Geburt verrät. Vielleicht.
Inzwischen fühle ich mich in gewisser Weise privilegiert, Vater von Anton zu sein. Er hat mich nicht zu einem besseren Menschen gemacht, aber er öffnet mir die Augen für das, was wichtig ist.
- Zeit haben,
- Sich Zeit nehmen
- Zeit miteinander verbringen
- Sich über kleine Erfolge freuen
- Mit Rückschlägen umgehen
- Geduld haben
- Und Lachen
- Toben
- Reden, auch mal auf Antons Art. Antonisch.
Svenja und ich sprechen das inzwischen ganz passabel. (Hauke Schrieber)“
Welche Perspektive haben wir eigentlich auf die Welt? Sehen wir sie so wie andere? Und sind wir in der Lage, sie so sehen zu können, wie andere unsere Welt nicht sehen können? Welchen Wert haben Menschen, die die Welt anders Ehen, erfahren und anders sind als wir?
Manchmal beschleicht mich die Angst, dass hinter vernünftig klingenden Begriffen wie „Eigenverantwortung“ oder Vorschlägen wie dem, dass nur noch Menschen, die Steuern zahlen, wählen dürfen, eine Welt lauert, in der sich nur noch die Starken durchsetzen können, nur noch die Schönen und Geschickten sein dürfen und alle Menschen, die nicht so sind, durchs Raster fallen, ausgemustert werden. Mein christlicher Glaube wehrt sich gegen diese Sichtweise. Denn abgesehen davon, dass jedes Leben wertvoll ist, dass es sich lohnt, sich in einen anderen Menschen hineinzudenken, hineinzufühlen, ist Gottes Blick auf die Welt, auf uns, ein barmherziger. Kein Blick, der etwas ausblendet oder beschönigt, aber uns genau so annehmen kann, wie wir sind. Liebevoll.
Dein Pfarrer Uwe Hayno Klaas Tatjes
Als Musik für heute wähle ich ich das bittersüsse Lied „Halt Dich fest an mir“ von Tom Liwa