Adventskalender 3. Dezember: Keine Zeit

Publiziert am 3.12.2025

Im Kaufhaus. „Geht es denn nicht schneller?“, „Können Sie nicht eine zweite Kasse aufmachen?“, „Wann geht es denn voran? Ich habe keine Zeit“. Das Gedränge ist gross, die Schlange vor der Kasse lang, die Nerven eher kurz und angespannt.
Haben Sie im Advent Zeit? Oder hetzen Sie von einem zum anderen und empfinden die Zeit, in der wir eigentlich zur Ruhe oder gar zur Besinnung kommen sollen, als stressig und viel zu kurz?
Dabei leben wir im Gegensatz zu unseren Vorfahren in einer himmlischen Freiheit: sie mussten ihre ganze Zeit aufwenden, um Nahrung, Wasser, Kleidung, Wärme zu beschaffen. Freie Zeit gab es damals wenig, Freizeit schon gar nicht. Die Zeit war bestimmt und wer sie nicht richtig nutzte. lief Gefahr, aus der Zeit zu fallen und sein Leben zu verlieren. Dagegen haben wir heute unendliche Freiheit, Entfernungen, die früher Monate oder Jahre oder Zeit kosteten, überwinden wir nun in wenigen Stunden. Dinge, die uns früher viel Mühe machten und Zeit kosteten, können wir Dank Technik udn Maschinen in kurzer Zeit verrichten oder sogar zuschauen, wie Geräte sie automatisch verrichten. Wir haben eine unglaubliche Freiheit und auch sehr viel Freizeit. Doch diese muss auch wieder gefüllt werden, bis keine Zeit mehr über ist udn wir uns gestresst fühlen. Oder wir langweilen und wissen nichts mit unserer Zeit anzufangen. Dabei vergessen wir, wie frei wir eigentlich sind und dass die Zeit in allererster Linie eine Geschenk ist und keine Last.

Dabei musste ich an ein Buch denken, das ich in meiner Jugend Gelsen habe. Es heisst: „Der Papalagi“. Hierin schildert ein Südseehäuptling (Tuiavii), wie er unsere westliche Zivilisation erlebt. Papalagi heißt der Weiße, der Fremde, prinzipiell sind also wir damit gemeint. Die Kapitel des Buches lauten bspw. Vom Fleischbedecken des Papalagi, Vom runden Metall, Die vielen Dinge machen den Papalagi arm (!), usw. Eines jedoch trägt den Titel Der Papalagi hat keine Zeit. Nachfolgend ein Auszug:

[…] er liebt vor allem aber auch das, was sich nicht greifen läßt und das doch da ist – die Zeit. Er macht viel Wesens und alberne Rederei darum. Obwohl nie mehr davon vorhanden ist, als zwischen Sonnenaufgang und -untergang hineingeht, ist es ihm doch nie genug.
Der Papalagi ist immer unzufrieden mit seiner Zeit, und er klagt den großen Geist dafür an, dass er nicht mehr gegeben hat.
[…] Das ist eine verschlungene Sache, die ich nie ganz verstanden habe, weil es mich übel anmacht, länger als nötig über solcherlei kindische Sachen nachzusinnen. […] eine kleine, platte, runde Maschine, von der sie die Zeit ablesen können. Man übt es mit den Kindern, indem man ihnen die Maschine ans Ohr hält, um ihnen Lust zu machen.
[…] Ich sage, dies möchte eine Art Krankheit sein; denn angenommen, der Weiße hat Lust, irgend etwas zu tun, sein Herz verlangt danach, er möchte vielleicht in die Sonne gehen oder auf dem Flusse im Canoe fahren oder sein Mädchen lieb haben, so verdirbt er sich zumeist seine Lust, indem er an dem Gedanken haftet: Mir ward keine Zeit, fröhlich zu sein. Die Zeit wäre da, doch er sieht sie beim besten Willen nicht. Er nennt tausend Dinge, die ihm die Zeit nehmen, hockt sich mürrisch und klagend über eine Arbeit, zu der er keine Lust, an der er keine Freude hat, zu der ihn auch niemand zwingt, als er sich selbst. Sieht er dann aber plötzlich, daß er Zeit hat, dass sie doch da ist, oder gibt ihm ein anderer Zeit – die Papalagi geben sich vielfach gegenseitig Zeit, ja nichts wird so hoch geschätzt als dieses Tun – so fehlt ihm wieder die Lust, oder er ist müde von der Arbeit ohne Freude. Und regelmäßig will er morgen tun, wozu er heute Zeit hat.
Weil jeder Papalagi besessen ist von der Angst um seine Zeit, weiß er auch ganz genau, und nicht nur jeder Mann, sondern auch jede Frau und jedes kleine Kind, wieviele Mond- und Sonnenaufgänge verronnen sind, seit er selber zum ersten Male das große Licht erblickte. Ja, dieses spielt eine so ernste Rolle, dass es in gewissen, gleichen Zeitabständen gefeiert wird mit Blumen und großen Essensgelagen. Wie oft habe ich verspürt, wie man sich für mich zu schämen müssen glaubte, wenn man mich fragte, wie alt ich sei, und wenn ich lachte und dies nicht wußte. „Du mußt doch wissen, wie alt du bist.“ Ich schwieg und dachte: es ist besser, ich weiß es nicht. Wie alt sein, heißt, wieviele Monde gelebt haben. Dieses zählen und nachforschen ist voller Gefahr, denn dabei ist erkannt worden, wieviele Monde der meisten Menschen Leben dauert. Ein jeder paßt nun ganz genau auf, und wenn recht viele Monde herum sind, sagt er: „Nun muß ich bald sterben.“ Er hat keine Freude mehr und stirbt auch wirklich bald.
Der Papalagi hat die Zeit nicht erkannt, er versteht sie nicht, und darum mißhandelt er sie mit seinen rohen Sitten, Oh, ihr lieben Brüder! Wir haben nie geklagt über die Zeit, wir haben sie geliebt, wie sie kam, sind ihr nie nachgerannt, haben sie nie zusammen- noch auseinander-legen wollen. Nie ward sie uns zur Not oder zum Verdruß. Der unter uns trete vor, der da keine Zeit hat! Ein jeder von uns hat Zeit die Menge; aber wir sind auch mit ihr zufrieden, wir brauchen nicht mehr Zeit, als wir haben und haben doch Zeit genug. Wir wissen, dass wir immer noch früh genug zu unserem Ziele kommen und dass uns der große Geist nach seinem Willen abberuft, auch wenn wir die Zahl unserer Monde nicht wissen. Wir müssen den armen, verirrten Papalagi vom Wahn befreien, müssen ihm seine Zeit wiedergeben. Wir müssen ihm seine kleine runde Zeitmaschine zerschlagen und ihm verkünden, dass von Sonnenaufgang bis -untergang viel mehr Zeit da ist, als ein Mensch gebrauchen kann.

In diesem Zeit wünsche ich Ihnen und mir heute einfach etwas Zeit, in der ich die Zeit vergesse und einfach bin und weder mich noch andere noch die Zeit messe.

Ihr Pfarrer Uwe Hayno Klaas Tatjes

Zu einem Leben, das Raum und Zeit vergisst, passt die schöne balkanische Ballade „Saraimann“ von Ladaniva, die einfach pure Lebensfreude ausstrahlt.

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